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[Geschrieben Anfang 1997]

Wetten, das die Zukunft spannend wird ! ...

Konzeption für eine Delphi-Börse im Internet

HOW TO GROW DELPHINIUMS

 It works, approximately, like this.

 First you corner a large - if possible, a very large - number of people who, while they've never formally studied the subject you're going to ask them about and hence are unlikely to recall the correct answer, are nonetheless plugged into the culture to which the question relates.

 Then you ask them, as it might be, to estimate how many people died in the great influenza epidemic which followed World War I, or how many loaves were condemned by EEC food inspectors as unfit for human consumption during June 1970.

 Curiously, when you consolidate their replies they tend to cluster around the actual figure as recorded in almanacs, yearbooks and statistical returns.

It's rather as though this paradox has proved true: that while nobody knows what's going on around here, evereybody knows what's going on around here.

 Well, if it works for the past, why can't it work for the future? Three hundered million people with access to the integrated North American data-net is a nice big number of potential consultees.

 Unfortunately most of them are running scared from the aweful specter of tomorrow. How best to corner people who just do not want to know?

 Greed works for some, and for others hope. And most of the remainder will never have any impact on the world to speak of.

 Good enough, as they say, for folk music ...

John Brunner, "The Shockwave Rider"

1. Die Idee

Das Konzepzt einer Delphi-Börse basiert auf der Überlegung, daß die Zukunft im kollektiven Unterbewußtsein antizipiert wird. Da dieser Vorgang von Imagination in der Regel nicht als individueller und bewußter Prozeß abläuft, wird ein Werkzeug benötigt, um die ungedachten Zukünfte zu erschließen und abzubilden.Die Delphi-Börse kann als ein Thermometer betrachtet werden, mit dem die nur unbewußt vorhandenen Realitäten einer (großen) Personengruppe durch einen spielerischen Prozeß "gemessen" werden. Genau wie im "I Ging" geht es bei der Delphi-Börse um das Beschreiben des "So-Seins" und das Erkennen von Tendenzen für das "So-Werden" der Realität.

Die Delphi-Börse bedient sich zu diesem Zweck der "Wette": Die TeilnehmerInnen wetten auf den Ausgang oder das Eintreten zukünftiger Ereignisse. Diese Ereignisse können politischer (Wahlergebnisse), kultureller (Charts), sozialer Natur (Arbeitslosenzahlen) oder andere interessante Begebenheiten sein.

Die Skalen, auf denen die Delphi-Börse Daten liefert, sind die Wettquoten, die Anzahl der teilnehmenden Personen, Wett-Umsatz, Wettfrequenz und am wichtigsten: die Wett-Themen. In diesem Konzept wird auf die Interpretation der Daten und die daraus resultierende Information nicht weiter eingegangen.

Die Delphi-Börse stellt ausschließlich die technische Infrastruktur (Internet) sowie die Software für die Verwaltung der Wetten zur Verfügung. Die Wetten werden von der Delphi-Börse nicht vorgegeben oder zensiert. Jede teilnehmende Person kann eine Wette anbieten. Findet sich mindestens eine zweite Person, die die Wette annimmt und einen Gegeneinsatz macht, so wird die Wette freigegeben und weitere Personen können sich an dieser Wette beteiligen.

Zudem arbeitet die Delphi-Börse als non-profit-Organisation. Alle Einsätze einer Wette werden nach Abzug der operationellen Kosten nach einem Schema an die WettteilnehmerInnen ausgezahlt.

2. Die Konkretisierung

Die Delphi-Börse nutzt die globale Kommunikations-Infrastruktur des Internets. Jede Person mit Internet-Zugang kann an den Wetten der Delphi-Börse teilnehmen.

Die Delphi-Börse übernimmt dabei folgende Aufgaben:

  • Verwaltung und Kontoführung von TeilnehmerInnen
  • Verwaltung der Wetteinsätze und der Wetten
  • Protokollieren der operationellen Daten zur Auswertung
  • Ermittlung von Wett-Entscheidungen

Die ersten drei Punkte dieser Liste sind einfache "Buchhalter"-Funktionen, die ohne große Probleme in Software umgesetzt werden können und hier nicht weiter besprochen werden müssen.

Die (software-technische) Herausforderung der Delphi-Börse verbirgt sich hinter dem dritten Punkt: das automatische Ermitteln und Bewerten von Wett-Entscheidungen. Unter diesem Aspekt gliedern sich Delphi-Wetten in verschiedene Kategorien und Bewertungsprozesse:

2.1. Auswahl-Wetten:

Wetten, in denen die Anzahl der Möglichkeiten für den Ausgang der Wette beschränkt sind, werden als Auswahl-Wetten bezeichnet. Beispiele für Auswahl-Wetten sind: "Wird die SPD bei der nächsten Landtagswahl unter 10% rutschen?" (2 Möglichkeiten) oder "In welchem Bundesland wird es 1998 die meisten BSE-Fälle geben?" (16 Möglichkeiten).

VerliererInnen gehen leer aus (keine Zahlung); allen GewinnerInnen wird ein Gewinn ausgezahlt, der proportional zu ihrem Einsatz ist.

2.2. Freie Wetten:

Wetten, in denen auf Zahlen, Datumsangaben oder ähnliche kontinuierliche Wett-Resultate gespielt wird, werden als Freie Wetten bezeichnet. Ein Beispiel für eine freie Wette ist die Wette "Wieviele Arbeitslose wird es in Deutschland 1999 geben?". Sollten eine oder mehrere Personen die tatsächliche Zahl exakt gewettet haben, wird eine freie Wette automatisch wie eine Auswahl-Wette ausbezahlt. In der Regel wird es aber keine eindeutigen "Gewinn-Situation" geben; Gewinn oder Verlust müssen diesen Fällen aus der Nähe der Wettaussage zum wirklichen Ergebnis berechnet werden. Auch hier soll der Gewinn proportional zum Einsatz sein.

2.3. Automatisches Bewerten von Wett-Aussagen

Das automatische Bewerten von Wett-Entscheidungen, vor allem bei freien Wetten, erfordert eine Metrik für Wettaussagen, die mehr als die bloße Entscheidung falsch/wahr liefert. Möglicherweise muß diese Metrik fest vorgegeben werden, indem nur definierte Kategorien von Wett-Aussgaben akzeptiert werden. Diese Kategorien würden zahl-mäßige Aussagen (wieviele?), Datums-bezogene Aussagen (wann?) sowie Enumerationenen (welche Person, welche Partei, welche...) enthalten. Eine Start-Liste von erlaubten Kategorien sowie deren Metrik sollte festgelegt werden. Diese Liste muß frei erweiterbar sein: MitspielerInnen eine Wette mit bisher unbekannter Kategorie ausführen wollen, müssen sich auf eine Metrik einigen.

Interface-Elemente für die Definition,Verwaltung und Anwendung von Metriken müssen als Java-Applets entwickelt werden.

2.4. Automatisches Ermitteln von Wettergebnissen

Das automatische Ermitteln von Wettergebnissen teilt Delphi-Wetten in zwei weitere Gruppen:

  • Wetten, die an einem bestimmten Tag "fällig" werden

    Beispiel: "Wieviele Obdachlose wird es am 1.September 1997 in Bayern geben"?

  • Wetten, die "fällig" werden, wenn eine vorgegebene Wettbedingung erfüllt ist

    Beispiel: "Wann überschreitet die Zahl der Verkehrstoten die 10.000 Marke?"

Beiden Gruppen ist die folgende Aufgabe gemein: Um die Wette ermitteln zu können, müssen die für die Bewertung notwendigen Informationen bzw. die passenden Informationsquellen bekannt sein: Wo im Internet finden sich die für die Entscheidung der Wette notwendigen Informationen und wie verläßlich oder vertrauenswürdig sind diese Informationen? Für die zweite Gruppe von Wetten muß diese Information kontinuierlich während der Laufzeit der Wette gesucht und bewertet werden; Wetten der Gruppe 1 werden nur einmal bewertet und sind damit weniger aufwendig.

Jede Delphi-Wette wird durch ein Buchmacher-Objekt verwaltet. Dieses Buchmacher-Objekt nimmt nicht nur die Wettaussagen und -einsätze der WettteilnehmerInnen entgegen, sondern beauftragt auch Agenten-Objekte mit der Suche nach den benötigten Informationen. Dazu muß das Buchmacher-Objekt die Wette kategorisieren - entweder selbstständig oder durch Konsens der Wett-TeilnehmerInnen - und das "passende" Agenten-Objekt von der Delphi-Börse anfordern.

Für die Generierung des passenden Agenten-Objektes greift die Delphi-Börse auf ein wachsendes Repository von bewerteten Informationsquellen zurück. Dazu werden kontinuierlich Scout-Objekte in das Internet geschickt, die neue Informationsquellen finden und zur Bewertung registrieren. Die Bewertung wird nicht automatisiert werden können; die Delphi-Börse sollte allen Besuchern, also nicht nur den Wett-TeilnehmerInnen, Funktionen zum Bewerten eines Informationspools in die Hand geben (Konsens-Bewertung). Um Wett-Manipulationen durch manipulierte Informationsquellen zu verhindern, müssen alle Wett-TeilnehmerInnen sich auf eine oder mehrere Informationsquellen einigen. Unstimmigkeiten in den Informationen, die zur Bewertung einer Wette benötigt werden, werden zuerst in der Gruppe der TeilnehmerInnen diskutiert und der Wettausgang durch Konsens festgelegt. Sollte dies nicht gelingen, dann muß ein unabhängiges Gremium aus Personen, das nicht in die Wette involviert ist, eine Entscheidung über den Ausgang der Wette treffen.

Agenten-Objekte operieren selbstständig bei ihrer Informationssuche. Je nach gesuchter Information können unterschiedliche Suchstrategien implementiert sein.

Epilog

Die in diesem Konzept formulierten Wetten sind absichtlich provokant gehalten. Sie formulieren potentielle Realitäten, die von den meisten Personen verdrängt werden. Eine der Aufgaben der Delphi-Börse ist damit der Realitätsabgleich; die damit verbundene Hoffnung ist, daß die Beschäftigung mit potentiellen Zukünften zu Entscheidungen für ein Handeln in der Gegenwart führt.

Für die Delphi-Börse könnte die Abwandlung eines bekannten Spruches passen: "Wer nicht aus der Zukunft lernt, ist dazu verdammt, die Vergangenheit zu wiederholen."